Auf dem Weg zur integrativen Medizin

Akupunktur

Definition und Grundlagen

Geschichte der Akupunktur in China

Die Akupunktur entwickelte sich auf der Grundlage der Erfahrung, dass die Einwirkung spitzer Gegenstände auf den Körper Beschwerden lindern kann. Die Systematisierung dieser Beobachtungen erfolgte unter dem Einfluss der sich verbreitenden Naturphilosophie mit den Grundtheorien von Yin und Yang und der 5 Wandlungsphasen 475-221 v. Christus. Die damalige wie heutige Grundvorstellungen der chinesischen Akupunktur beziehen sich stark auf eine Monographie aus der Han Zeit, die unter dem Titel Huang di Neijing bekannt ist. Der Teil Suwen enthält die immer noch gültigen Vorstellungen der chinesischen Akupunktur zu Physiologie und Pathologie. Der Teil Lingshu enthält Anleitungen zur Praxis der Akupunktur und Moxibustion. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde vor allem in den Städten vermehrt westliche Medizin und Wissenschaft angewandt. Nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 kam es unter Mao Zedong zu einer staatlich vorangetriebenen Gegenbewegung. Mit den in Kurzlehrgängen ausgebildeten Barfußärzten wurde die medizinische Versorgung flächendeckend organisiert, aber auch neue Hochschulen für Chinesische Medizin wurden gegründet. In den 1990er Jahren wurde die chinesische Arzneimitteltherapie (CAT) standardisiert und spezielle Ausbildungsgänge wurden geschaffen. Die Anwendung der Akupunktur zur Schmerzstillung bei operativen Eingriffen wurde ebenfalls zu dieser Zeit in China entwickelt und es folgten zahlreiche Forschungsarbeiten. Heute lässt sich in China die westliche und traditionelle Medizin als paralleles, gleichberechtigtes Angebot sowohl an Kliniken als auch an Hochschulen beobachten.

Entwicklung der Akupunktur in der westlichen Welt

Die Entwicklung der Akupunktur in der westlichen Welt beginnt im 17. Jahrhundert. Aus dieser Zeit stammen erste Berichte Chinareisender und erste im Westen erscheinende medizinische Schriften. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Akupunktur in Europa stetig weiterentwickelt, Lehrbücher entstanden, chinesischsprachige Standardwerke wurden übersetzt.

Die wissenschaftliche Erforschung der Akupunktur begann ca. 1970 im Westen, bald war der Nachweis der Endorphinfreisetzung als ein Wirkmechanismus der Akupunktur erbracht. Nixons Chinareise 1972 rückte die Akupunktur weiter in den Blickpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Klinische Forschungen folgten, die zunehmende Evidenz und klinische Erfahrungen führte ab 1974 zur Einrichtung universitärer Akupunkturvorlesungen, zunächst an der Universität Gießen (Herget), kurze Zeit später auch an der LMU – Ludwig-Maximilians-Universität München (Kampik, Gleditsch). Auch das Interesse an Akupunktur und TCM in der Öffentlichkeit stieg stetig.

1996 wurden die beiden Ziffern 269 und 269a für Akupunktur in die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) eingeführt. Ein Meilenstein in der internationalen Anerkennung war die National Institutes of Health (NIH) Consensus Conferenz 1997 in Maryland, in der man konstatierte, dass die Akupunktur eine wissenschaftliche Grundlage, sowohl physiologische als auch klinisch, besitzt und zu weiteren Erforschung aufgerufen wurde. In Deutschland wurden Forschungsprojekte initiiert (Modellprojekt der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV)), 2006 wurde an der LMU München die erste Habilitationsschrift der Humanmedizin zur Akupunktur verabschiedet (Irnich). Jährlich folgen weitere Studien und Forschungsarbeiten (Informationen z. B. über Wissenschaftszentrum DÄGfA).

Techniken

Die Chinesische Medizin betrachtet den Menschen in seiner Ganzheit und ist nicht in einzelne Fachrichtungen getrennt. Ihr Anliegen ist es, Krankheiten nicht nur zu heilen, sondern auch der Entstehung von Krankheiten vorzubeugen.

Nach einer ausführlichen Anamnese wird eine TCM-Diagnose gestellt. Aufgrund dieser Diagnose wird die Reizart, Reizstärke, die Anzahl der Nadeln und die zu stechenden Akupunkturpunkte festgelegt und der Patient mittels Akupunktur behandelt. Hierbei kommen beispielsweise sogenannte Nah- und Fernpunkte auf den Leitbahnen (Meridianen), Microsystempunkte und Triggerpunkte zum Einsatz. Die Stichtiefe an einzelnen Punkten ist je nach Diagnose und anatomischer Lage unterschiedlich, sie kann sehr oberflächlich und fasziennah sein, manche Akupunkturnadeln werden aber auch mehrere Zentimeter tief an spezifische Strukturen (Periost, Triggerpunkt im Muskel) gesetzt. Eine Erwärmung mittels Moxakraut kann in manchen Fällen die Wirksamkeit der Akupunktur verstärken (Technik der Moxibustion). Je nach Beschwerdebild und Diagnose verweilen die Nadeln dann beim ruhenden Patienten 20-30 Minuten, manchmal werden sie auch stark bewegt (z. B. bei der Triggerpunktakupunktur). Schröpfkopfmassage, Schröpfkopftherapie, Ernährungstherapie und chinesische Arzneitherapie runden die TCM-Behandlung häufig ab.

Anwendungsbereiche

Die Anwendungsgebiete sind vielfältig. Die Begründung für die Anwendung findet sich bei einem Teil der Indikationen durch sehr gute wissenschaftliche Evidenz (siehe Wissenschaft und Forschung). Darüber hinaus spielen Erfahrungen aus der jahrhundertelangen Anwendung der Akupunktur sowie die individuellen Patientenbedürfnisse eine Rolle. Viele Patienten, die einmal erfolgreich mit Akupunktur behandelt wurden, wünschen eine Behandlung auch bei anderen Beschwerden.

Vor Indikationsstellung ist eine westliche-schulmedizinische Diagnose zu stellen, um relevante Erkrankungen auszuschließen, die primär eine konventionelle Behandlung erfordern (z. B. Krebserkrankungen) oder welche ursächlich beseitigt werden können (z. B. Infektion).

Die Akupunktur gehört zu den nachgewiesenen sicheren Verfahren in der Medizin bei fachgerechter Anwendung und vorliegenden ärztlichen Kenntnissen zur Indikationsstellung und frühzeitigem Erkennen extrem seltener, schwerwiegender unerwünschter Wirkungen (Acupuncture-related adverse events: systematic review and meta-analyses of prospective clinical studies. Bäumler P, Zhang W, Stübinger T, Irnich D. BMJ Open. 2021 Sep 6;11(9):e045961. doi: 10.1136/bmjopen-2020-045961).

Die Stärke der Akupunktur und der TCM ist der regulative Ansatz, welcher insbesondere bei Funktionsstörungen zum Tragen kommt. Indikationen können sein:

 

  • Akute und chronische Schmerzen
  • Schmerzen bei verschiedenen Erkrankungen
  • Schmerzen und Funktionsstörungen des Bewegungssystems
  • Kopfschmerzen
  • Allergien
  • Depression
  • Hauterkrankungen
  • HNO-Erkrankungen: Rhinitis, Sinusitis, u. a.
  • Gynäkologische Erkrankungen
  • Geburtshilfliche Indikationen
  • Urologische Erkrankungen
  • Funktionelle Störungen
  • Vegetative Beschwerden
  • Suchterkrankungen
  • Psychosomatische Erkrankungen
  • Symptomlinderung in der Palliativmedizin

Aus der Praxis

Wo wird das Verfahren eingesetzt

Akupunktur wird regelmäßig sowohl ambulant in Arztpraxen als auch in vielen Kliniken und Rehabilitationskliniken begleitend eingesetzt.
Aufgrund der in der Regel sicheren und bei vorliegender Ausbildung einfachen Anwendung ohne die Notwendigkeit technischer Hilfsmittel hat sich die Akupunktur in speziellen Situationen bewährt, beispielsweise in der Katastrophenhilfe (z. B. durch Acupuncture without Borders)

Erstattung und Kosten

Die Akupunkturbehandlung kostet je nach Behandlungsdauer und Aufwand zwischen 30 und 75 Euro je Sitzung. Bei chronischen Knie- und Lendenwirbelsäulenerkrankungen übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten der Körperakupunktur. Zusätzliche Maßnahmen wie z. B. Schröpfen, Moxibustion und Arzneitherapie sind vom Patienten zu bezahlen. Viele private Krankenversicherungen erstatten Akupunktur im Rahmen der Schmerzbehandlung, also bei Kopf-, Gelenk- und Wirbelsäulenschmerzen. Bei anderen Beschwerden, wie z. B. Reizdarm, Schlafstörungen oder Erschöpfung, lässt sich Akupunktur auch häufig mit sehr gutem Erfolg einsetzen, die GOÄ sieht hierfür aber keine Ziffer vor. Aus diesem Grund empfiehlt sich bei solchen Indikationen eine Anfrage bei der Krankenkasse zur Klärung der Kostenübernahme.

Wissenschaft und Forschung

Es existiert eine große Anzahl von qualitativ hochwertigen, in international anerkannten Zeitschriften publizierte Studien. Dies gilt sowohl für die Wirkmechanismen als auch für verschiedene Indikationen. Eine Überlegenheit gegenüber Placebo, Langzeiteffekte und, mindestens ebenbürtig, zu anerkannten Therapieverfahren liegt vor allem im Bereich der Schmerzbehandlung vor.

Verschiedenen Cochrane-Reviews und insbesondere eine individuelle Patientendaten Meta-Analyse einer internationalen Forschergruppe liefert überzeugende wissenschaftliche Nachweise für die Wirkungen der Akupunktur bei Kopfschmerz, Rückenschmerz, Schmerzen bei Gonarthrose und Schulterschmerz. (Acupuncture for Chronic Pain: Update of an Individual Patient Data Meta-Analysis. Vickers et al. J Pain. 2018). Für andere der o. g. Indikationen liegen zumindest einzelne Studien vor, welche positive Hinweise geben. Eine aktuelle Zusammenfassung der Grundlagenergebnisse und der klinischen Studien wurde in der Deutsche Zeitschrift für Akupunktur veröffentlicht (Irnich, D. Wissenschaftliche Grundlagen der Akupunktur. Dtsch Z Akupunkt 64, 260–267 (2021).

Einige Indikationen haben Eingang in S3-Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) gefunden, die die wichtigsten zur komplementären und alternativen Medizin zählenden Methoden, Verfahren und Substanzen nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin bewertet. Die S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ erschien im Juli 2021 (hier als pdf).