Naturheilverfahren sind Therapien, die mit aus der Natur stammenden Mitteln und Wirkfaktoren wie Wärme, Kälte, Luft und Nahrung die individuellen Ordnungs- und Heilkräfte anregen können. Zu den klassischen Naturheilverfahren gehören:
Die erste Definition des Begriffs „Naturheilverfahren“ geht auf den Arzt Dr. Lorenz Gleich (1798–1865) zurück, der darin eine Behandlung mit natürlichen, von der Natur vorgegebenen Mitteln wie Kälte und Wärme, frischer Luft, natürlicher Kost und kaltem Wasser sah.
Die den heutigen klassischen Naturheilverfahren zugrundeliegende Vorstellung von der Selbstheilungskraft bzw. Selbstheilungstendenz des Organismus (Physis) reicht bis in die griechische und römische Antike zurück. Als bedeutende Wegbereiter gelten Hippokrates („Medicus curat, natura sanat“), Paracelsus (1493–1541) und Sebastian Kneipp (1821–1897), auf den die fünf Säulen der klassischen Naturheilverfahren zurückgehen.
Großen Auftrieb erhielt die zunächst von Laien geprägte Naturheilbewegung in Deutschland im 19. Jahrhundert, bevor Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend auch Ärzte die Naturheilkunde für sich entdeckten und erste Lehrstühle und Kliniken entstanden.
Mit der Einführung der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren im Jahr 1976 haben die Naturheilverfahren einen festen Platz in der ärztlichen Weiterbildung gefunden. 1992 wurde das Fachgebiet Naturheilverfahren in den Gegenstandskatalog für die ärztliche Prüfung aufgenommen.
Eine weitere Aufwertung erfuhren die Naturheilverfahren 2003, als sie mit Einführung der neuen Ärztlichen Approbationsordnung dem Querschnittsbereich 12 „Rehabilitation, Physikalische Therapie, Naturheilverfahren“ zugeordnet wurden und seitdem verpflichtend geprüft werden müssen.
Wichtigstes Kennzeichen der Naturheilverfahren sind weniger die Verwendung „naturnaher“ Mittel, sondern das ihnen zugrunde liegende Prinzip, die Natur eines Menschen günstig zu beeinflussen. Anders als in der konventionellen Medizin, in der es vorwiegend darum geht, pathologische Zustände zu beseitigen, steht bei den Naturheilverfahren die Verbesserung der Lebens- und Selbstheilungskraft im Vordergrund. Vorrangiges Ziel dieses salutogenetischen Ansatzes ist es, Bedingungen herzustellen und Prozesse anzuregen, unter denen der Organismus nach dem biologischen Prinzip der Selbstregulation wieder in die Lage versetzt wird, sich aus sich selbst heraus zu heilen.
Um dieses Ziel zu erreichen, werden vor allem nebenwirkungsarme oder -freie Naturheilmittel verwendet, also Mittel der natürlichen Umwelt wie Nahrung, Wasser, Heilpflanzen und klimatische Faktoren, die im Sinne einer Reiz-Reaktions-Therapie wirken und so zur Heilung von Körper und Psyche beitragen.
Zum Grundkonzept gehört es dabei auch, die PatientInnen aktiv mit einzubeziehen, um sie zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil anzuregen. Wie die Praxis zeigt, reagieren die meisten PatientInnen überaus positiv auf konkrete individuelle Empfehlungen, die sie selbst durchführen bzw. mitgestalten können.
Bei der naturheilkundlichen Diagnostik geht es nicht nur darum Störungen, sondern vor allem auch das individuelle Potenzial eines Patienten zu erkennen, dass im Rahmen der Therapie angesprochen und für den Heilungsprozess genutzt werden kann. Aufgabe der Ärztin ist es daher zu beurteilen, wie gut der Patient auf physischer und psychischer Ebene in der Lage ist, Störungen der Homöostase aufzufangen und auszugleichen.
Zur Diagnostik stehen Ärzt*innen für Naturheilverfahren unterschiedliche Methoden zur Verfügung, von denen dem Patientengespräch eine besondere Bedeutung zukommt. Ergänzt wird dieses durch eine manuelle und visuelle Wahrnehmung körperlicher Zeichen, die Untersuchung von Körperflüssigkeiten und -ausscheidungen und ggf. physikalische Messungen.
Mit einer gewissen Erfahrung gibt eine solche umfassende Diagnostik dem Arzt nicht nur Auskunft über das aktuelle Befinden, sondern auch über die Konstitution eines Patienten und über die Art und Weise, wie er auf Heilungsreize reagiert – alles wertvolle Informationen, wenn es darum geht, die Art der therapeutischen Reize, ihre Dauer und Intensität optimal auf die jeweilige Patientin abzustimmen.
Die klassischen Naturheilverfahren werden sowohl zur Prävention als auch zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt. Dabei kommen vorrangig Teile der Natur zum Einsatz, darunter
All diese Elemente werden im Rahmen der fünf Säulen der Naturheilkunde gezielt zur Heilung und Linderung von Krankheiten, krankhaften Beschwerden oder Funktionszuständen von Körper und Seele eingesetzt:
Darüber hinaus gibt es eine Reihe erweiterter Naturheilverfahren wie Akupunktur, Neuraltherapie und ausleitende Verfahren, die im Rahmen von Zusatz-Weiterbildungen erlernt werden können.
Für Mediziner*innen sind die meisten Naturheilverfahren rasch erlernbar und leicht in die Praxis integrierbar. Bei der Therapie werden üblicherweise verschiedene Naturheilverfahren kombiniert; so können Synergien genutzt und eine möglichst guter Therapieerfolg erreicht werden.
Besonders erfolgreich eingesetzt werden Naturheilverfahren in der Prävention, der Rehabilitation, bei der Behandlung von Funktionsstörungen, Befindlichkeitsstörungen sowie psychischen und somatoformen Störungen. Darüber hinaus können Naturheilverfahren im Rahmen der adjuvanten Therapie chronischer Krankheiten, bei denen die konventionelle Medizin an ihre Grenzen stößt, dazu beitragen,
Nachweislich von einem solchen Ansatz profitieren können beispielsweise Patient*innen mit medikamentenresistentem Bluthochdruck oder Rheumatoider Arthritis.
Das (Muster-)Kursbuch der Bundesärztekammer, in dem die Ausbildungsinhalte festgelegt sind, spiegelt das breite Anwendungsspektrum klassischer Naturheilverfahren wider:
Hinzu kommen die Begleitung von Patienten mit onkologischen Erkrankungen und somatoforme Störungen.
Beim chronisch-entzündlichem Rheuma handelt es sich meist um eine Systemerkrankung mit möglicher Beteiligung innerer Organe und der Zerstörung der Gelenke. Die naturheilkundlichen Behandlungsansätze unterscheiden sich bei den verschiedenen Rheumaformen. Eine naturheilkundliche Behandlung erfolgt immer individuell und orientiert sich am allgemeinen Gesundheitszustand, am Alter und den Begleiterkrankungen.
Gute Studien gibt es zu der seit Jahrzehnten erfolgreich angewendeten Ernährungstherapie und zum Heilfasten. In der Regel werden begleitend Arzneimittel aus der Pflanzenheilkunde, der mikrobiologische Therapie und der Anthroposophischen Medizin eingesetzt. Dazu kommt die Kältebehandlung aus der Thermotherapie, Elemente der Ordnungstherapie, Mind-Body Medizin und Bewegungstherapie. Mit diesem für die Integrative Medizin typischen multimodalen Therapieansatz, kann es gelingen, den Bedarf an Analgetika, nichtsteroidalen Antirheumatika, Cortison etc. gering zu halten.
Naturheilverfahren werden sowohl in ärztlichen Praxen als auch in Hochschulambulanzen und Kliniken angewendet. Ende 2020 trugen in Deutschland knapp 13.000 berufstätige Ärzt*innen die Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren, davon etwa 10.400 ambulant Tätige. Rund 60 Prozent der Hausärzt*innen wenden bereits Naturheilverfahren in der Hausarztpraxis an.
Umfragen zufolge hat fast jeder Zweite in Deutschland Erfahrung mit Naturheilverfahren, 70 Prozent möchten mit Naturheilkunde behandelt werden.
Kontaktadressen von Ärzt*innen mit der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren finden sich unter anderem auf den Seiten entsprechender ärztlicher Fachgesellschaften.
Unter bestimmten Voraussetzungen werden die Kosten für Leistungen der Naturheilverfahren in Deutschland von der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. im Rahmen der Rehabilitation von dem zuständigen Rehabilitationsträger übernommen. Zu den erstattungsfähigen Leistungen zählen z. B. einzelne physikalisch-medizinische Leistungen sowie ausgewählte Phytopharmaka. Darüber hinaus werden spezielle Zusatzversicherungen angeboten.
Bei privatärztlichen Abrechnungen müssen Naturheilverfahren vielfach als Analog-Leistungen abgerechnet werden. Anhaltspunkte hierfür bietet das Hufeland-Leistungsverzeichnis.
Der Abschluss der Ausbildung berechtigt zum Führen der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren. Dieser dient der Qualitätssicherung und bietet eine wertvolle Orientierungshilfe für Patient*innen.
Als eine von bisher drei von der Bundesärztekammer anerkannten Zusatzbezeichnungen im Bereich der komplementären Medizin kann die Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren im Rahmen einer umfangreichen Zusatz-Weiterbildung erworben werden. Voraussetzungen für die Weiterbildung sind ein mit der Approbation abgeschlossenes Medizinstudium und eine Facharztausbildung.
Die curriculare Weiterbildung nach dem (Muster-)Kursbuch Naturheilverfahren der Bundesärztekammer umfasst mindestens
Die Gesamtstundenzahl der Kurs-Weiterbildung „Naturheilverfahren“ beträgt 160 Stunden. Der Kurs besteht aus vier Modulen zu je 40 Stunden, die in der vorgesehenen Reihenfolge absolviert werden sollen, da sie aufeinander aufbauen.
Der Besuch von einzelnen Modulen bei verschiedenen Kursanbietern ist grundsätzlich möglich und frei kombinierbar, wobei für die Anerkennung des erfolgreichen Abschlusses sämtliche Module des Weiterbildungskurses vorliegen müssen.
Der praktische Teil besteht aus 80 Stunden Fallseminare unter Supervision. Die Fallseminare beschreiben eine Weiterbildungsmaßnahme mit konzeptionell vorgesehener Beteiligung jedes einzelnen Teilnehmers, wobei unter Anleitung eines Weiterbildungsbefugten anhand von vorgestellten Fallbeispielen und deren Erörterung Kenntnisse und Fähigkeiten sowie das dazugehörige Grundlagenwissen erweitert und gefestigt werden.
Die Fallseminare können durch 6 Monate Weiterbildung unter Befugnis an Weiterbildungsstätten ersetzt werden.
Die Kurs-Weiterbildung kann zeitlich parallel zur praktischen Weiterbildung absolviert werden. Sie kann auch als ärztliche Fortbildung absolviert werden.
Die Facharztanerkennung muss zum Zeitpunkt der Anmeldung zur Prüfung der Ärztekammer vorgelegt werden.
Deutschlandweit gibt es zahlreiche Bildungsträger, die die Weiterbildung zur Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren anbieten.